Über 150 Jahre prägte die Baltimore & Ohio Railroad (B&O) den Osten der USA. Zwar war die 1827 gegründete Eisenbahnlinie nicht die erste Bahngesellschaft der USA, aber das die neue Bahngesellschaft einen riesigen Anspruch hatte, zeigte die Grundsteinlegung. Am Nationalfeiertag 1828 ließen die Chefs der B&O den Grundstein von Charles Carroll of Carrollton legen, den damals letzten lebenden Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung von 1776. Und die Euphorie war nicht unbegründet. Die B&O entwickelte sich prächtig und wurde zur ersten Class I Railroad – dazu gehören nur die Umsatz stärksten Eisenbahngesellschaften der USA.
Strategisch verfolgte die Eisenbahn zwei Ziele. Zum einen sollten die großen Häfen der Ostküste (damals New York, Philadelphia, Baltimore und Charleston) mit der Hauptstadt Washington verbunden werden und dadurch eine günstige Fracht- und Personenverbindung zwischen diesen Metropolen erreichen. Zum anderen sollte eine Verbindung zum Ohio River eine Transportroute in das Landesinnere sichern. Der Ohio River mündet in den Mississippi River und bildet so eine Wasserstraße, die sowohl das Landesinnere hervorragend abdeckt aber auch einen Transfer an den Golf von Mexico ermöglichte.
Nach anfänglichen Erfolgen leidete die B&O besonders unter dem amerikanischen Bürgerkrieg. Während die Südstaaten die strategische Bedeutung der Eisenbahn frühzeitig erkannten, waren viele Generäle der Union nicht bereit die B&O zu verteidigen. Am Ende siegten zwar die Truppen der Union aber gerade das Streckennetz der B&O litt besonders unter dem Bürgerkrieg.
Nach dem Krieg expandierte die B&O direkt in mehrere Richtungen. Unter anderem wurde 1871 die Stahlstadt Pittsburgh angeschlossen. Allerdings hielt der Aufschwung nicht auf Dauer. Zum einen sorgten die schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ein Sinken des Auftragsvolumen. Zum anderen schafften es die Konkurrenz durch geschickte Alternativen die Attraktivität der eigenen Angebote zu Lasten der B&O zu erhöhen. So hatte die B&O 1889 einen Anteil von 31% am Kohletransport an der Ostküste. In weniger als einem Jahrzehnt schrumpfte der Anteil auf gerade einmal 4%.
Zu Beginn des 20 Jahrhunderts kaufte dann die Konkurrenz in Person der PRR (Pennsylvania Railroad) so viele B&O-Aktien auf, dass sie einen neuen Chef installieren konnten. Dieser wurde Leonor F. Loree. Und Loree investierte kräftig in die Gleisstruktur der B&O. Die Verringerung von Steigungen und Kurven sowie der Ausbau von zweigleisigen Strecken machte die B&O für die nächsten Jahre wieder fit. Allerdings hatte sich der Anteilseigner PRR mehr erhofft, so dass er seine Anteile an die Union Pacific verkaufte. Diese hatte jedoch wenig Interesse am operativen Geschäft auf der anderen Seite des Kontinents und zahlte die Aktien der B&O als Dividende an die eigenen Aktionäre aus.
In den 1920er und 1930er Jahren vergrößerte die B&O ihr Netz mit dem Kauf anderer Bahngesellschaften oder durch das Anmieten von Strecken bei den Mitbewerbern. Diese hatten auf einigen Strecken den besseren Verlauf (weniger Kurven, weniger Steigung) als die B&O. Durch das Anmieten der Strecken konnte die B&O also einen schnelleren Service anbieten und so mit den Mitbewerbern gleichziehen.
Die B&O gilt auch als einer der Vorreiter beim Wechsel von Dampf- auf Dieseltraktion. Zum Teil mit einem Vorsprung von 10 Jahren startete die B&O gegenüber ihren Mitbewerbern die Umstellung. Trotzdem war die B&O in ihrem Heimatmarkt zwischen Washington DC und New York einem harten Wettbewerb ausgesetzt. Mit der PRR und der NYC (New York Central) wurde um jeden einzelnen Passagier und jede Tonne Fracht gekämpft. Dabei stellte sich heraus, dass die Wahl der Strecken vor zum Teil über 100 Jahren in der Moderne als ungünstig herausstellten: Die Fahrzeiten waren länger. Gleichzeitig erhielten die Bahngesellschaften mit dem ständig wachsendem Flugverkehr eine neue, zeitlich kaum zu schlagende Konkurrenz. Bereits Ende der 1950er Jahre stellte die B&O an der Ostküste große Teile ihres Personenverkehrs ein und konzentrierte sich auf den Güterverkehr.
Kaufte die „alte Dame“ der B&O über hundert Jahre viele kleinere Bahngesellschaften auf, ereilte sie 1964 das gleiche Schicksal. Die Chesapeake & Ohio Railway (C&O) konnte 90% der B&O-Aktien aufkaufen und übernahm die Kontrolle bei der B&O. Für die C&O machte die Übernahme Sinn, da sich die Strecken beider Gesellschaften größten Teils ergänzten. Wenig später wurde von de C&O auch die Western Maryland Railroad übernommen. Dies führte 1971 dazu, dass die Gesellschafter die neue Firma „Chessie System“ gründeten und die alten Bahngesellschaften in die neue Firma überführten. Obwohl die B&O Teil des Chessie System war, wurde die Marke B&O weiter genutzt und führte noch bis 1987 ihren eigenen Betrieb aus.
Das Jahr 1980 sollte aber ein Schicksalsjahr für die B&O werden. Chessie System entschloss sich mit der Bahngesellschaft Seaboard Coast Line Industries zusammen zu gehen. Daraus entstand die neue Firma CSX Corporation. Innerhalb der CSX wurde die Grundsatzentscheidung getroffen, dass die beteiligten Bahnlinien nicht mehr einzeln verwaltet werden sollten. Innerhalb weniger Jahre wurden die beteiligten Bahngesellschaften zusammengelegt, so bis am Ende nur noch die Firma CSX übrig blieb. 1987 verschwand dann auch die traditionsreiche Baltimore&Ohio Railway aus dem operativen Geschäft.